Die Unendlichkeit des Anfang und Endes

    KOLUMNE:


    Jugend von heute

    Die Sonne scheint warm vom Himmel. Die Vögel zwitschern sorglos ihr Liedchen. Es scheint als wäre es ein Tag wie jeder andere. Doch für eine Person stimmt dies nicht. Denn für eine Person ist es heute der wichtigste aber auch angsteinflössendste Tag ihres Lebens. Klein-Lilly hat heute ihren ersten Schultag.

    An meinen ersten Schultag vor 15 Jahren erinnere ich mich so gut, als wäre es gestern gewesen. Wie ich auf meinem Stühlchen hin und her rutschte, wie mein Herz pochte und wie ich mich meinen Klassenkameraden leise vorstellte: «Hallo, ähmm ich heisse Lilly …» Das erlösende Gefühl als endlich die Schulglocke läutete, werde ich nie vergessen. «Nie wieder einen ersten Schultag», dachte ich glücklich – Doch leider nicht ganz. In den kommenden Schuljahren erlebte Klein-Lilly viel. Sie knüpfte viele Freundschaften und schloss diese Menschen ins Herz. 5 Jahre später war die Trauer dann gross, der letzte Schultag. Aus der Angst vor dem Unbekannten wurde die Angst vor dem Loslassen.

    Es gibt nichts, das mir so schwerfällt wie das Durchleben erster und letzter Tage. Was mir noch schwerer fällt, ist, dass dies unumgänglich ist. Ein Leben ohne erste und letzte Tage gibt es nicht. Es gehört zum Lauf des Lebens dazu. Das Unbekannte wandelt sich in das Vertraute und endet in einer blossen Erinnerung, die man bis zum Lebensende mit sich trägt. Diese Unumgänglichkeit beschäftigt mich. Weshalb muss sich der Mensch dem Unbekannten hingeben, ihm anvertrauen und dann im schönsten Moment wieder entreissen? Weshalb öffnen wir uns überhaupt fremden Menschen, wenn wir wissen, dass es in den wenigsten Moment für die Unendlichkeit ist? Und was bedeutet überhaupt Unendlichkeit in einer Welt der Vergänglichkeit?

    Für mich ist Unendlichkeit das Gefühl der Schwerelosigkeit, wenn ich vor lauter Lachen die Welt vergesse. Wenn ich in der Gegenwart lebe, ohne einen Gedanken an das Vergangene oder das Kommende zu verschwenden. Wenn ich mit meinen Freunden rede und dabei völlig die Zeit vergesse. Unendlichkeit bedeutet für mich, wenn ich mit einem Lächeln auf den Lippen an die schönen Momente zurückdenke und mein Herz schwer wird vor lauter Freude und Nostalgie. Unendlichkeit ist, wenn ich das blosse Sein vergesse und einfach Lebe. Unendlichkeit gibt es nur, wenn wir die ersten und letzten Tage mit offenen Armen empfangen.

    Das Abschiednehmen und das Loslassen fällt schwer und eigentlich würde ich gerne in einer Welt leben ohne dieses ungleiche Paar, das nicht miteinander kann aber auch nicht ohne. Dass eine prophezeit Aufregung und Nervosität, dass andere Trauer und Sehnsucht. Die einzige Gemeinsamkeit ist die Freude, die sich durch sie in der Zukunft entfaltet. Denn wie wüssten wir die Schönheit des Lebens zu schätzen, wenn es niemals enden würde? Woher wüsste ich, wer ich bin, wenn ich immer noch in der Primarschule wäre? Wie ein Zitat von Kait Rokowski besagt: «Nichts endet poetisch. Es endet und wir verwandeln es in Poesie.» Erst mit der Abwesenheit wissen wir die Anwesenheit zu schätzen und lassen es dann in unseren Gedanken Revue passieren und verwandeln es somit in Poesie, in unseren ganz persönlichen Schatz der Erinnerung.

    Mit diesen Gedanken und dieser Hoffnung möchte ich ins neue Jahr starten. Ich möchte den Anfang und das Ende begrüssen und mich nicht vor meiner eigenen Courage scheuen. Ich möchte im Jahr 2024 viele erste Tage, aber auch letzte erleben. Ich möchte neue Ziele starten, neue Lebensabschnitte starten und neue Wege gehen. Damit dies passieren kann, muss ich Platz schaffen. Bekanntes, Vertrautes, Geliebtes beenden und ins Herzen manövrieren, wo es bleibt für immer. Genau diesen Mut wünsche ich auch Ihnen. Dass Sie dieses Jahr Neues ausprobieren, aus Ihrer Komfort-Zone ausbrechen und sich nicht vor dem Unbekannten und dem Loslassen scheuen. Denn nur so ist es uns möglich Momente der Unendlichkeit zu erleben und nach diesen sehnen wir uns doch alle.

    Herzlichst
    Lilly Rüdel

    Vorheriger ArtikelBrustkrebs kann tödlich sein, wenn er zu spät entdeckt wird
    Nächster ArtikelDank STMZ wieder nach Hause gefunden