Cancel Culture, die Demokratie und unsere Eigenverantwortung

    KOLUMNE:


    Jugend von heute

    Die Vorwürfe verbreiteten sich wie ein Lauffeuer in der Schweiz und über die Landesgrenzen hinaus. Der Ex-Chocolatier Läderach soll Kinder misshandelt haben. Eine Nachricht, die schockiert. Zwei Monate später sind die staatsanwaltlichen Ermittlungen im vollen Gange. Weniger voll sind die Läderach-Geschäfte. Denn während sich die Staatsanwaltschaft die Frage stellt: schuldig oder nicht, beschäftigt sich die Gesellschaft mit der Frage: gecancelt oder nicht.

    Die Cancel Culture, auf Deutsch auch Lösch- oder Zensurkultur genannt, ist ein Phänomen, das sich durch Social Media in der Gesellschaft etabliert hat. Personen, die ein nicht-moralisch-vertretbares Verhalten an den Tag legen, werden durch den Entzug medialer Aufmerksamkeit bestraft. Soziale Gerechtigkeit wird durch soziale Ausschliessung erzielt. Die Cancel Culture ist das gesellschaftliche Gericht, welches entscheidet: Wirst du deinem sozialen Status gerecht?

    Der Grundgedanke der Cancel Culture, für Gerechtigkeit zu sorgen, befürworte ich ohne Frage. Viel zu lange konnten prominente Personen machen, was sie wollten, ohne mit grossen Konsequenzen rechnen zu müssen. Dies ändert die Cancel Culture. Denn niemand ist zu reich, zu schön oder zu einflussreich, um gerecht und moralisch korrekt zu handeln. Dennoch führt die Cancel Culture nicht immer zum gewünschten Ziel. Die Cancel Culture befürwortet das strikte Ausgrenzen von moralischen Verhaltenssündern und schliesst somit eine Diskussion- und Kompromissbereitschaft aus. Im Falle von bewiesener Gewalt, Aufruf zur Gewalt, Diskriminierung oder homophoben Äusserungen finde ich es angebracht, denn dies ist ohne Diskussion falsch. In anderen Situationen ist das Canceln jedoch problematisch. In einer Demokratie braucht es Diskussionen, um zu einem Kompromiss zu gelangen. Cancel Culture verbietet dies und kann somit als Gegenpol zur Demokratie und Meinungsfreiheit wirken. Auf der anderen Seite fördert es das gesellschaftliche Zusammenleben, da es indiskutable Standards voraussetzt, die jeder einhalten muss.

    Eine weitere Problematik der Cancel Culture ist der Umgang mit der Unschuldsvermutung. Auch wenn sich später die Unschuld beweisen lässt, ist die Resozialisierung in das öffentliche Leben für unschuldig Gecancelte schwierig. Ein bitterer Nachgeschmack bleibt, wie bei dem Fall des Schauspielers Kevin Spacey.

    Zusätzlich befürchten Gegner/-innen der Cancel Culture, dass die Meinungsfreiheit verloren geht. So müssen Autoren in den USA, um ihr Leben bangen, wenn ihr Buch nicht für alle moralisch und ethisch vertretbar ist. Durch die Angst von der Gesellschaft gecancelt zu werden, kann unser öffentlicher Diskurs in bestimmten Bereichen verarmen. Das Ziel der Cancel Culture, für Gerechtigkeit zu sorgen, führt zu neuer Ungerechtigkeit. Doch was kann man dagegen unternehmen?

    Bis anhin ist Canceln eine Sache der Öffentlichkeit. Durch die Cancel Culture werden Boykotte, Protestaktionen und Hetzereien im Internet ausgelöst. Gegen gewaltfreie Proteste bin ich nicht, denn diese sind Grundbausteine der Demokratie. Ich möchte mich hier aber gegen Hetzerei, Angst und Hass aussprechen, welche durch die Cancel Culture verbreitet werden. Anstatt dass man Menschen einfach aus der Öffentlichkeit verbannt, sollte man versuchen, mit diesen das Gespräch zu suchen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der zum Glück die Meinungsfreiheit gilt. Wenn mir also eine Ansicht oder ein Verhalten nicht passt, dann konsumiere ich seine Inhalte nicht mehr. Man kann hier bei uns, Personen nicht einfach zensieren und aus der Öffentlichkeit verbannen, so schwer es einem manchmal fällt. Man kann als Privatperson jedoch Verantwortung übernehmen. Denn eine Person kann nur Ungerechtigkeit, Lügen und Unmoral verbreiten, solange man ihr zuhört.

    Herzlichst
    Lilly Rüdel

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